Requiem für eine Getränkehändlerin

Folge 11 vom 30.08.2011


Inhalt:

    - Ein phänomenologischer Todesfall
    - ein pathologischer Realitätsverlust
    - und ein philosophischer Rechtfertigungsansatz

   


Die Frau meines Getränkehändlers ist gestorben. Es muss kurz nach Weihnachten gewesen sein. Viel weiß ich nicht, von meiner Getränkehändlerin. Sie war 56 Jahre alt und tippte immer sehr langsam Zahlen in eine uralte Registrierkasse. Bei mir grundsätzlich 15,90 Euro! Dann kippte sie einfach um und war tot.

Ihr Mann ist erschüttert. Sein Leben ist jetzt ein Anderes. Und er kann das nur zur Hälfte begreifen, denke ich. Seitdem hat er die Öffnungszeiten geändert und ich bekomme mein Mineralwasser nur noch zwei Stunden täglich, am Abend. Das Ändern der Öffnungszeit ist sein Requiem, glaube ich. Es scheint die Sprache zu sein, in der er seine Trauer ausdrücken kann. Und ich glaube, darin steckt mehr Gefühl, als im schönsten „Dies Irae“.

Ich begreife übrigens auch nicht, dass die Frau tot ist, so wenig wie ihr Mann. Der Grund ist womöglich ein anderer: Ich glaube grundsätzlich nicht daran, dass Dinge wirklich geschehen. Es fehlt mir da ein Gen. Oder vielleicht anders: Ich glaube es schon, aber ich bin außer Stande, die Bedeutung dieses Glaubens zu erfassen.

Ja, hinterher, hinterher lässt sich natürlich immer ganz leicht feststellen, dass man Entscheidungen getroffen hat. Hinterher bemerkt man, dass das Leben ganz anders verlaufen ist, als man sich vorgestellt hat. Und hinterher kann man sogar erklären, warum. Man weiß hinterher eben alles. Und es ist auf eine bestimmte, ziemlich endgültige Art vergangen.

Während etwas geschieht, wirkt es dagegen in einem Maß unwirklich, dass ich überhaupt nicht daran zu glauben vermag. Die wirklich wichtigen Sachen wirken immer, als würde ich sie mir gerade einbilden. Damit bin ich übrigens nicht ganz allein. Genau genommen bewege ich mich sogar in der sehr illustren Gesellschaft außerordentlich berühmter Philosophen. Zeno, Platon, Hegel, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Cassirer, Luhmann, Heisenberg oder Foucault: Die Liste der Realitätsverächter ist lang.

Der Glaube an die Realität scheint mir unter Fachleuten nicht einmal besonders verbreitet. Die Liste der ernsthaft Wahrheitsgläubigen ist sehr überschaubar. Einen philosophischen Glauben an die Wirklichkeit würde ich eigentlich nur Carl Popper und Karl Marx unterstellen wollen und das auch nur, weil die beiden nachdrücklich darauf bestehen.

Wie auch immer! Edmund Husserl jedenfalls trennte damals in seiner fünften Logischen Untersuchung die Erscheinungen im Bewusstsein grundsätzlich von den Beschaffenheiten der Welt. Und so wenig erschütternd das klingt, so spektakulär ist das wirkliche Ergebnis.

Jenseits der Wahrnehmung darf man demnach noch eine andere Welt vermuten, die uns zwar unbekannt, aber in beruhigender Weise doch da ist:

Wir leben immer noch, aber wir wissen verdammt noch mal nicht, unter welchen Umständen.

In der Welt geschieht etwas, aber wir nehmen nur die Ergebnisse wahr, die durch diese Welt in uns ausgelöst werden. Im Wesentlichen bleibt uns mithin nur Hunger, Durst und Schmerz, sowie ein schaler Orgasmus, dem wir über weite Strecken auch nicht vertrauen. Die Welt, mit anderen Worten, bleibt uns äußerlich, weil unsere Wahrnehmung uns nur mit einer sehr eingeschränkten Palette an Empfindung versorgen kann.

Das trifft unser Lebensgefühl schon besser, nicht wahr? Wir haben plötzlich zu wenig Sinne! Und diese Einschränkung der eigenen Sinnesorgane zu erkennen und zu betrauern ist wiederum eine durchaus raffinierte Art, sich über ganz oberflächliche Zweifel hinwegzusetzen: Dass wir der Welt ihre Existenz nicht abnehmen, erweist sich darin plötzlich als Sieg der kritischen Vernunft über die Oberfläche des Alltäglichen. Dabei war das doch immer umgekehrt gewesen: Begreifen konnten wir unser Leben ohnehin nie, aber jetzt müssen wir auch nicht mehr daran glauben.

Über der Registrierkasse in der Getränkehandlung hängt jetzt ein Bild mit einem Trauerflor. Und vor der Getränkehandlung hängt meist ein anderes Schild: Geschlossen! Das immerhin hat etwas Greifbares. Ich mag meinen Getränkehändler. Wirklich!

 

von Gerald Reuther.


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Literatur:

Husserl, Edmund: V. (Fünfte) logische Untersuchung. Hg. v. Elisabeth Ströker. Hamburg, (1901) 1988.